The Future is Stupid

Wie oft habe ich diesen Satz jetzt schon gesagt. Von Jenny Holzer. Die Tasche, die ich bei der Ausstellung in Riehen gekauft hat, hängt an der Stehlampe neben meinem Bett. «THE FUTURE IS STUPID» Immer wieder sage ich diesen Satz. Halte ihn wie ein Schild vor mich. Wenn jemand von Szenarien spricht zum Beispiel. Aber auch bei Plänen, Terminvorschlägen, bei Fragen.

Und zu W., der diesen Satz nicht besonders beachtet hat, obwohl er ihn immer sieht und lesen kann, wenn er sich zu mir, zu meiner Seite des Bettes dreht, habe ich gesagt, dass ich denke, Jenny Holzer hat das Konzept gemeint. Als sie ihre «Truisms» vor 40 Jahren in Kursivschrift ausgedruckt und an Häuserwände und Telefonzellen geklebt hat. Das Konzept Zukunft.

Seit 2013 schon hängt dieser Satz (zusammen mit anderen Truisms) neben meinem Bett. THE FUTURE IS STUPID. Aber auch ich habe ihn wenig beachtet. Er hatte keine grosse Anziehungskraft für mich. Ich habe auf «PRIVATE PROPERTY CREATED CRIME» oder «RAISE BOYS AND GIRLS THE SAME WAY» geschaut. Erst seit ich diese seltsamen Wochen im Ausnahmezustand verbracht habe, in diesem vor allem persönlichen Ausnahmezustand, will ich von der Zukunft nichts hören. Erst seit ich nach zwei Monaten Abwesenheit, wieder zurück bin in Zürich, leuchtet mir dieser Satz entgegen. 

Vielleicht ist es Zufall, dass ich Mitte Februar, als das Aufregendste, was vor mir lag, noch der Langstreckenflug nach Chile war, begonnen habe, täglich zu meditieren. Seit Mitte Februar setze ich mich jeden Tag hin und suche die Gegenwart, die ich so gut wie nie finde. Ich habe Chi Gong gemacht, Achtsamkeitskurse, und natürlich Yoga. Ich habe das Buch «Jetzt» beinahe zu Ende gelesen. Die Momente, in denen ich die leuchtende ungestörte Gegenwart erfahre, sind so selten, dass sie mir noch immer wie eine Mischung aus Wunder und Irrtum vorkommen.

Während es mir schon immer leichtfiel, mich in die Vergangenheit zu bewegen. Mir Gedanken zu machen, über das, was schon war, was vorbei ist, wie ich es anders, besser hätte machen können. Auch jetzt. Jetzt schaue ich ratlos auf die zwei zurückliegenden Monate. Heute vor zwei Monaten bin ich aus Chile nach Deutschland geflogen, weil mein Vater eine so schlechte Prognose hatte. Tage nur, ein zwei Wochen, hatte der Arzt gesagt. Morgen vor zwei Monaten habe ich nach meiner Landung in Paris, während meiner Reise mit dem Zug über Brüssel nach Düsseldorf zwei Mails bekommen, mit Ansteckungs- und Mortalitätsprognosen, in Links oder in Nebensätzen. 

Und jetzt, erst jetzt, fällt mir ein, dass ich über den Tod eines Vaters schon einmal ein Märchen geschrieben habe. Da wird die jüngste der drei Töchter (das wäre im richtigen Leben ich) wahnsinnig, weil sie die Aufgabe des Vaters nicht erfüllt und ihn vor lauter Erfüllungsversuchen nicht mehr besucht, seinen Tod verpasst, zu spät kommt. Das war im richtigen Leben nicht so. Jetzt war ich dort. Immer wieder in diesen letzten Tagen und Wochen. Aus denen 40 Tage, knapp 6 Wochen geworden sind. Jetzt war ich dort, als er gestorben ist. Nein. Ich weiss nicht, wann genau er gestorben ist. Der Moment. Jetzt. Jetzt. In dem Moment war er wahrscheinlich allein.

In meinem Traum heute Nacht lebte er. Er lebte, obwohl die Beerdigung vorbei war. Obwohl alle ausser mir und meiner Schwester dachten, er sei gestorben. Wir holten ihn ihm Krankenhaus ab und ich fuhr ihn in einer Art Leiterwagen über Stock und Stein, Hügel und Tal, an einen schöneren Ort. Für mich wird dieser Corona-Frühling immer der Frühling sein, in dem mein Vater gestorben ist. In dem wir gemeinsam noch Flieder gesehen haben und Apfelblüten. Herrentorte und Spargel gegessen. Geburtstag gefeiert und Ostern. Der Frühling, in dem ich auch immer wieder diesen anderen Satz gesagt habe: Ich habe keine Kapazität für Corona.

Es ist auch der Frühling, als mein Buch herauskommen sollte, der Roman, in dem eine Passage von einem Vater handelt, der wegen seines Herzens ins Krankenhaus musste. Und einer Tochter, die das am Telefon erfährt, in einem anderen Land, am Tag danach, als er schon wieder Zuhause ist. Als alles gut gegangen ist. Ich habe mir immer gewünscht, nach Düsseldorf zu einer Lesung eingeladen zu werden, habe mir vorgestellt, wie mein Vater und seine Frau zu der Lesung kommen. Und vielleicht werde ich das. Mit diesem Buch. In einer Zukunft, in der man das Buch kaufen kann. In der es wieder Lesungen gibt. In einer Zukunft, in der mein Vater nicht lebt.

Ich habe «The Future is stupid» aus verschiedenen Gründen gesagt. Am meisten vielleicht, weil ich keine Angst haben wollte. Keine Angst ins System geben. Auch so ein Ausdruck, eine Phrase, die in den letzten Wochen und Monaten wie ein Schutzschild gewirkt hat. Keine Kapazität. Keine Angst. Keine Zukunft. Meine Reaktionen auf Corona. Und dazu eine Schreibaktion, etwas ehrenamtliche Arbeit im Zusammenhang mit der Situation von Menschen auf der Flucht. Ein paar Texte. Und darunter tatsächlich auch eine zurückblickende Utopie. In der ich mir schönschreibe, was noch nicht ist. Aus einer Zeit heraus, die noch nicht ist. Die so schön wahrscheinlich nie gewesen sein wird.

Am Schrank gegenüber von meinem Bett hängt eine andere Tasche, mit nur einem Satz, sie hängt da noch nicht so lang. Ich habe sie in der Buchhandlung im Volkshaus gekauft. «Du musst dein Ändern leben» steht darauf. Dietmar Dath, frei nach Rilke. Und Dietmar Dath, der im Zusammenhang mit Corona geschrieben hat, die «erzählenden Künste» seien «das Mögliche, das dem Wirklichen winkt», schreibt ja Utopien, Science Fiction. Ich schreibe fast immer in der Gegenwart. Wenn ich über die Zukunft schreibe, dann aus dem Rückblick. Wenn ich von meinem Vater träume, lebt er noch. Jetzt. Jetzt. Jetzt. Jetzt sitze ich zum ersten Mal seit 2 ½ Monaten wieder in dem Café, in dem ich morgens immer schreibe, fast immer am selben Tisch, mit dem zweiten von meinen üblichen zwei Kaffees. Mein Vater hatte auch feste Rituale, allein und zusammen mit seiner Frau. Jetzt würde er bald zu Mittag essen. Sehr langsam. Er hat immer alles sehr langsam gemacht, zum Schluss beinahe in Zeitlupe, das Brot geschmiert und belegt, kleingeschnitten, die Häppchen ganz langsam zum Mund geführt, ganz langsam. Als ob die Zeit stehen bleibt.

 
Der Test ist als Auftragstext für die Anthologie “Die Zäsur” (essais agités 2020) entstanden. Und dort erstmals erschienen.

Zurück
Zurück

Das Schreibzimmer hat keine Koordinaten

Weiter
Weiter

Das Beste an Corona