Der Hund ist tot
Der, der den Hund begraben hat, der hat vergessen, wo er liegt. Der hat  kein Kreuz gemacht und keine Kerbe. Der hat von Breitengraden keine  Ahnung und weiß nicht mal, in welcher Gegend. Ob er den Hund in  halbgefrorner Erde, in abgesacktem Sand, in Torf, in Lehm. Er weiß es  nicht.
 Jetzt suchen alle nach der Leiche. Mit Wünschelruten, Satelliten,  Schäferhunden. Mit Archäologen, Pathologen, Kopfgeldjägern,  Agenten, Agenturen und Experten. Mit Bodentruppen und mit Religion.
 Der, der den Hund begraben hat, der hat den Hund nicht mal gekannt. Er  hat ihn bloß gefunden. Der, der den Hund begraben hat, der fürchtet sich  vor Hunden, selbst vor toten. Er hat so tief gegraben, wie er konnte.  Ob er vor Jahren, Tagen, vor Jahrzehnten. Er weiß es nicht. Er weiß auch  nichts vom Leichengift.
 Weil niemand wirklich weiß, wo er begraben liegt, gibt es an jeder Ecke  Hundegräber, und jeder hält ein andres Grab für das verbürgte. Sie  weinen Tränen über Maulwurfshügel, sie klagen, schreien, werfen Blumen,  sich zu Boden, einander vor, am falschen Grab zu stehn und sagen: Das  Grab ist leer.
 Der, der den Hund begraben hat, der leidet lang schon unter Amnesie.  Seit er am Grab des ungekannten Hundes stand. Er weiß nicht, wer er ist  noch was er wollte. Er wird von niemandem erkannt. Er ist mit niemandem  verwandt. Doch jeder fragt ihn nach dem Weg. Er weiß ihn nicht.
Der Hund ist tot im Literaturradio.at
Aufnahme: Lesung von TITTANIC beim Zürcher Theater Spektakel 2008
Stimme: Ulrike Ulrich